Werkverzeichnis Nr.

Hybride Topographien

Reise nach Tübingen zu den Shipibo-Conibo
(…) Der große Krug der Shipibo-Conibo ist ein Gleichnis, ein Modell des Universums. Die drei großen Gefäße in der zentralen Halle des Museums zeigen die typische Dreiteilung im Dekor. Sehr vereinfacht gilt folgendes: Der untere Bereich ist rot und ungemustert und bezieht sich auf die aquatische Unterwelt, der mittlere Bereich des Gefäßbauches mit den großen Mustern bezieht sich auf das Himmelsgewölbe, der obere des Gefäßhalses mit den sehr feinen Mustern auf den höchsten Himmel, die geballte Potenz. Gebhart-Sayer schreibt zu der Musterkunst der Shipibo-Conibo, dass die geometrischen Muster in früherer Zeit möglicherweise auch eine kartographische Funktion besaßen.
Meine Arbeiten übernehmen die Dreiteilung, sind eine Art Kartenkunst. Entrollt werden Teile von topographischen Karten und Stadtplänen, touristische Ansichten meiner Reise in Tübingen sowie einzelne Elemente der Indianerornamentik. Leinwände – gewaschen, gefärbt, ge- und benäht – bilden eine locker zusammengestellte Flatbed-Ebene (Leo Steinberg).
In der europäischen Moderne sind Karten häufig Ausgangsmaterial für Kunst – Karten überblendet, gefaltet, entfaltet … Sie werden benutzt, um laterale Bewegungen, Verschiebungen und Durchquerungen hervorzurufen. Karten setzen den Blick von oben voraus, nicht den perspektivischen – keinen göttlichen, sondern den ikarischen Blick. Es handelt sich um einen gerichteten Raum der Kräfte und Affekte, einen offenen und nomadischen Raum, ein Patchwork (Vergleiche: Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick der Kunst. Berlin, 1997, S. 106/107).
Meine künstlerischen Leinwandobjekte beziehen sich also auf andere Bilder, andere Texte (Altstadt Tübingen, Museum, deplatzierte Objekte einer alten, südamerikanischen Kultur, deutsche Landkarten verschiedener Maßstäbe, universitäre Forschungen, Formen zeitgenössischer »westlicher« Kunst …). Sie sind Pastiches, vielfältig zusammengesetzt, Nachahmungen im Spannungsfeld von Landkarte und Tafelbild. Die Gefahr bleibt, dass Differenzen verwischt werden, und es bleibt das Misstrauen gegenüber den eigenen imperialen Tendenzen.(…)

Silke Radenhausen
Auszug aus dem Katalog „Silke Radenhausen - Hybride Topographien“ Bd. 1, S. 10.

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